[OPE-L] Rosa Luxemburg and Hegelian philosophy (german)

From: glevy@PRATT.EDU
Date: Mon Sep 18 2006 - 09:44:33 EDT


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Rosa Luxemburg: Die »schneidende Waffe der Hegelschen Dialektik«
Dogan Göçmen
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Die philosophische Seite des Luxemburgischen Werkes ist kaum  untersucht.
Selbst unter Linken ist bislang hauptsächlich ihre politische  Theorie
berücksichtigt worden, die sich allerdings häufig auf eine sehr
fragmentarische Rezeption gründet und sich oft auf Schlagwörter reduziert.
Dies  führt meistens dazu, daß ihre Kernaussage nicht nur verzerrt wird.
Nicht selten  werden solche aus dem Zusammenhang gerissene Schlagwörter
gerade von ihren  Gegnern gegen jene Ziele ins Feld geführt, für die
Luxemburg gekämpft  hat.

Die fragmentarische Rezeption ergibt sich u.a. dadurch, daß sie  keine
geschlossene Arbeit hinterlassen hat, die als ihr Hauptwerk identifiziert
werden kann. Sie hat viele Artikel sowie kleinere und einige größere
Schriften  verfaßt, die auf die »praktischen Zeitfragen« der damaligen
deutschen und  internationalen sozialdemokratischen bzw. kommunistischen
Bewegung eine Antwort  suchten. Selbst ihre wohl umfassendste
wissenschaftliche Arbeit, »Die  Akkumulation des Kapitals«, liest sich
noch an vielen Stellen wie ein  Rohmaterial. Aber der eigentliche Grund
für die fragmentarische Lesart ihrer  Texte seitens ihrer Interpreten
liegt wohl darin, daß ihr Werk nicht von ihrem  philosophischen
Verständnis her interpretiert wird.

Zwar hat Luxemburg im  engeren Sinne des Wortes kein philosophisches Werk
verfaßt, auch hat sie keine  »Philosophischen Hefte« oder »Konspekte« wie
etwa Lenin hinterlassen. Dennoch  war sie an philosophischen Fragen mehr
interessiert, als man zunächst vermuten  mag. Selbst philosophische
Diskussionen, die nur für Fachphilosophen von  Interesse sein mögen,
konnten ihrem auf das Ganze gerichteten Blick nicht  entgehen.1 Ihr Werk
bietet einen »lebendigen Spiegel« der methodologischen und
wissenschaftstheoretischen Debatten zu Beginn des 20.
Jahrhunderts, an denen sie  mit vielen Beiträgen aus
hegelisch-marxistischer Perspektive beteiligt war.  Insofern ist ihr Werk
eine unerläßliche Quelle - auch für die Vergegenwärtigung  dieser Debatten
und ihrer philosophischen Haltung zu diesen. Zudem wäre es  falsch bei
marxistischen Theoretikern wie Luxemburg, um sie als Philosophin
einzuordnen, nach »reinen« philosophischen Werken zu suchen, denn es geht
ihnen  nicht allein um die Entwicklung der dialektischen Philosophie,
sondern auch um  ihre Aufhebung, also um die Anwendung der Philosophie auf
praktische Probleme. Widerspruch als Bewegungsform
In ihrem Werk findet man nicht mehr als ein Dutzend Hinweise  auf Hegel und
seine Philosophie. Doch sie verweisen auf das Herzstück seines  Systems,
auf die Dialektik der Bewegung und damit auf die des Widerspruchs. »Der
große Philosoph Hegel« habe gesagt, der Widerspruch sei »das
Fortleitende«, also  das Bewegende (GW 5, S. 719). Der Widerspruch ist der
Grund der Bewegung und  nicht etwa im siebenten Himmel zu suchen, sondern
in den Dingen  selbst.

Es ist diese Lehre, durch die Hegel die verknöcherte Denkweise in  Fluß
brachte. Was man sonst über das Hegelsche System kritisch anmerken mag, er
definiert bereits zu Beginn der »Wissenschaft der Logik« die permanente
Bewegung  als das Wesen aller Existenz. Der Trieb, also die Bewegung, sagt
er, sei »ein  Negatives, das eine positive Richtung in sich enthält. Es
ist eine der  wichtigsten Erkenntnisse, diese Natur der betrachteten
Reflexionsbestimmungen,  daß ihre Wahrheit nur in ihrer Beziehung
aufeinander und damit darin besteht,  daß jede in ihrem Begriffe selbst
die andere anhält, einzusehen und  festzuhalten; ohne diese Erkenntnis
läßt sich eigentlich kein Schritt in der  Philosophie tun.«2 Und wenig
später fügt er dann hinzu: »Es ist aber eines der  Grundvorurteile der
bisherigen Logik und des gewöhnlichen Vorstellens, als ob  der Widerspruch
nicht eine so wesenhafte und immanente Bestimmung sei als die  Identität;
ja, wenn von Rangordnung die Rede und beide Bestimmungen als  getrennte
festzuhalten wären, so wäre der Widerspruch für das Tiefere und
Wesenhaftere zu nehmen. Denn die Identität ihm gegenüber ist nur die
Bestimmung  des einfachen Unmittelbaren, des toten Seins; er aber ist die
Wurzel aller  Bewegungen und Lebendigkeit; nur insofern etwas in sich
selbst einen Widerspruch  hat, bewegt sich, hat Trieb und Tätigkeit.«3 Es
ist diese Widerspruchslehre, die  Luxemburg als »die schneidende Waffe der
Hegelschen Dialektik« genannt hat (GW  1/2, S.
137).

Geschichtlichkeit als Forschungsmethode ist für Luxemburg  vor diesem
Hintergrund eine unerläßliche Bedingung, die erfüllt werden muß, wenn  die
Untersuchungsgegenstände in ihrem Wesen, in ihrem gewordenen Werden und
Vergehen angemessen erfaßt, erklärt und kritisch dargestellt werden
sollen. Am  ausdrücklichsten hat sie diesen Gedanken in ihrem Aufsatz
»Karl Marx«  ausgesprochen. Auf die Frage, was die »Marxsche Lehre« sei,
antwortet sie: Sie  sei »in allgemeinsten Umrissen« die »Erkenntnis des
historischen Weges, der aus  der letzten > antagonistischen<, auf
Klassengegensätze beruhenden  Gesellschaftsform in die auf
Interessensolidarität aller Mitglieder aufgebaute  kommunistische
Gesellschaft führt«. In ihr mache die historische  »Forschungsmethode« den
»unvergänglichen Teil« aus (ebd., S. 377).
Hegel, nicht Kant Diese Methode bezieht sich auch auf die Philosophie, und
die  Philosophie schließt notwendigerweise auch die Philosophiegeschichte
ein. Sie  reflektiert in ihrem Werden und der Entwicklung ihrer Kategorien
auch  Gesellschaftsgeschichte. Die philosophischen Kämpfe widerspiegeln
auch die  Klassenkämpfe. Der Grundwiderspruch der kapitalistischen
Gesellschaft drückt  sich im Grundwiderspruch der Philosophie dieser
Gesellschaft aus. Die  Bourgeoisie brachte als
aufstrebende Klasse die Klassiker der Nationalökonomie  und Philosophie
hervor und gestattete noch »jene Unbefangenheit der Forschung,  jene
Rücksichtslosigkeit der Konsequenzen, jenen kühnen Flügelschlag in die
Höhe  (...), aus der sie die inneren Zusammenhänge der bürgerlichen
Produktionsweise  mit genialem Blick erfaßte« (GW 1/1, S. 734). Doch
spätestens nach der  Französischen Revolution von 1789 geht es dem
Bürgertum darum, alle schneidenden  Waffen in Philosophie
und Wissenschaftstheorie abzustumpfen. Heute wendet die  bürgerliche
Wissenschaft deshalb ihren »Blick von der Erforschung der  allgemeinen
Gesetze zur Rechtfertigung der Einzelerscheinungen« (ebd.) ab.  Deshalb
scheine das Zurück »heute die Losung der bürgerlichen
Gesellschaftswissenschaften zu sein. Zurück auf Kant in der Philosophie,
zurück  auf Adam Smith in der Ökonomie! Ein krampfhaftes Zurückgreifen auf
bereits  überwundene Standpunkte, das ein sicheres Zeichen der
Ausweglosigkeit ist, in  die die Bourgeoisie geistig wie sozial
bereits geraten ist« (ebd., S.  736).

Die bürgerliche Losung zurück auf den bereits überwundenen  Standpunkt der
Kantischen Philosophie richtete sich in erster Linie gegen die  Hegelsche
Philosophie. Diese Losung kam von den Neukantianern, von denen viele  auch
Mitglieder der SPD waren, und richtete sich in erster Linie gegen die
Hegelsche Widerspruchslehre, die u.a. in Marxens Klassen- und
Revolutionstheorie  weiterwirkt.  Im Aufsatz »Hohle Nüsse« kommt Luxemburg
zu folgender Feststellung:  »Da aus Hegel die philosophischen Wege nun
einmal unvermeidlich in die  gefährlichsten Räuberhöhlen von Feuerbach und
Marx führen, so blieb den  bürgerlichen Philosophen nichts anderes übrig,
als einfach durch einen Ukas  [Befehl - D. G.]
Hegel in der Entwicklung der Philosophie zu annullieren und die
Wissenschaft > auf Kant< zurückhufen zu lassen« (ebd., S. 490).

Hegel  selbst definiert seine Philosophie zum einen gegen die Kantische
Philosophie und  zum anderen gegen die in starren Gegensätzen denkende
traditionelle Metaphysik.  Bereits in der »Vorrede zur ersten Ausgabe« der
»Wissenschaft der Logik« wirft  er Kant, der mit seiner »Kritik der reinen
Vernunft« alles metaphysische Denken  unmittelbar aus der Philosophie
verbannen will, Empirismus vor. Hegel, trotz all  seiner Kritik an der
Metaphysik, will sie keineswegs vernichten, sondern  aufheben. Wenn Kant
z.B. das Ding-an-sich oder das Wesen des Objekts für  unerkennbar erklärt,
was ihn dazu verpflichtet, erkenntnistheoretisch auf der  Oberfläche der
Erscheinungen zu bleiben, erfaßt die Hegelsche
Philosophie das  Allgemeine der Dinge, das das Besondere einschließt, in
seinem Werden und  Vergehen.

Die bürgerliche Wissenschaft, die im Gegensatz zu Marx und  Luxemburg mit
einem imaginären Salto mortale die Hegelsche Dialektik überwinden  und auf
Kant zurückgehen will, muß auf Erkenntnisfähigkeit verzichten.
Wissenschaft endet dann wie im Fall von Eduard Bernstein in der
dualistischen  »Gedankenschaukel« von Entweder-Oder, weil er »der
Dialektik Valet sagt« (ebd.,  S. 439), oder sie bringt, wie z.B. in der
Ökonomie, nichts als ein »Wirrwarr«,  nichts als eine »System-, Geist- und
Kopflosigkeit« hervor (ebd., S. 736). Dies  führt folgerichtig zu dem
wissenschaftstheoretisch erbärmlichen Zustand, in dem  sich die
»Forschung wie der Vogel Strauß mit dem Kopf in den Sand der kleinen
Splittererscheinungen vergräbt, um keine größeren Zusammenhänge sehen zu
müssen  und nur für den Tagesbedarf zu arbeiten« (GW 1/2, S. 376). In der
so zur  »Methode erklärten Zaghaftigkeit des empirischen Tastens« (ebd.,
S. 295)  betreibt die bürgerliche Wissenschaft eine »fleißige
Atomisierungsarbeit«, die  »das Bild des sozialen Lebens wie in einem in
tausend Splitter zertrümmerten  Spiegel«
wiedergibt. Das ist auch »das sicherste Mittel«, so führt Luxemburg in
ihrem Aufsatz »Im Rate der Gelehrten« weiter aus, daß »alle großen
sozialen  Zusammenhänge theoretisch aufzulösen und den kapitalistischen
Wald hinter lauter  Bäume >wissenschaftlich< verschwinden zu lassen«
(ebd., S. 388). Um also auf das  Wissen in Zusammenhängen verzichten zu
können, muß die bürgerliche Wissenschaft  alles tun, um die Hegelsche Last
abzuwerfen. Doch dies sei ein vergeblicher  Versuch, denn »es gibt ein
Zurück ebensowenig in der Wissenschaft wie in der  tatsächlichen
Entwicklung der Gesellschaft« (GW 1/1, S. 736).

Gegen die  bürgerliche »Erkenntnisskepsis«, den »in allen Farben
schillernde[n]  Eklektizismus« und gegen die »Theorielosigkeit« (GW 1/2,
S. 376) setzt sie die  Widerspruchslehre und den Erkenntnisoptimismus, der
allerdings die  wissenschaftlich begründete und prüfende Erkenntniskritik
einschließt. Den  Anspruch, daß man wissenschaftstheoretisch auf die
Widerspruchslehre nicht  verzichten könne, formuliert sie ausdrücklich in
ihrem Buch »Einführung in die  Nationalökonomie«: »Die menschliche
Gesellschaft im ganzen verwickelt sich aber  fortwährend in Widersprüche,
sie geht aber daran nicht zugrunde, sondern tritt  umgekehrt erst dann in
Bewegung, wo sie in Widersprüchen steckt. Der Widerspruch  im Leben der
Gesellschaft löst sich nämlich immer in Entwicklung, in neue
Fortschritte der Kultur auf. Der große Philosoph Hegel sagt: >Der
Widerspruch  ist das Fortleitende.< Und diese Bewegung in lauter
Widersprüche ist eben die  wirkliche Art der Entwicklung der menschlichen
Geschichte« (GW 5, S. 719).  Historisierend kommt sie dann in ihrem
Aufsatz »Zurück auf Adam Smith« zu dem  Schluß: »Das innerste Wesen der
bürgerlichen Produktionsweise, ihr eigentliches  Geheimnis läßt sich nur
dann entziffern, wenn man sie in der Bewegung, in ihrer  historischen
Bedingtheit betrachtet« (GW 1/1, S. 734).

Annulliert man  aber Hegel in der Philosophie, so vernichtet man zugleich
umfassende  Erkenntnisfähigkeit und -möglichkeit selbst. So kann weder die
Gesellschaftsgeschichte noch die Entwicklung des Denkens, die sich beide
in  Widersprüchen vorwärts bewegen, erklärt werden. Man stünde sozusagen
vor einem  großen Chaos einzelner Fakten. Deshalb kann die Losung für
Luxemburg nur sein: Weiter mit Hegel in der Philosophie »auf dem bereits
von Marx beschritten Wege  der dialektischen Methode« (ebd., S. 736).

Das darf aber nicht im engeren  Sinne des Wortes genommen werden. Das
»Weiter mit Hegel in der Philosophie«  bedeutet für Luxemburg, daß Kants
Philosophie genauso mitgenommen werden muß wie  alle zivilisatorischen
Errungenschaften der Menschheit, einschließlich die der  Bourgeoisie. Denn
der Ruf der bürgerlichen Wissenschaft zurück auf Kant, Smith  usw.
bedeutet nicht, daß sie einfach wiederbelebt werden. Es bedeutet vielmehr
die Zerstörung vor allem jener Elemente ihrer Lehre, die über sich
hinausweisen,  wie es die Neukantianer zu genüge am Kantischen Werk
praktiziert haben.  Luxemburg sieht daher die Aufgabe der
Arbeiterklasse und damit auch ihre  besondere Aufgabe als eine
Intellektuelle dieser Klasse darin, selbst »die  Kultur der Bourgeoisie
vor dem Vandalismus der bürgerlichen Reaktion zu schützen  und die
gesellschaftlichen Bedingungen der freien Kulturentwicklung zu schaffen«
(GW 1/2, S. 367). Hegel und Marx Luxemburgs Kritik der bürgerlichen
Wissenschaftstheorie liest  sich wie eine Verteidigung der Dialektik
Hegels. Diese Verschränktheit der  Marxschen Dialektik mit der Hegelschen
und umgekehrt kommt vielleicht nirgends  besser zum Ausdruck als in ihrem
Werk. Nach der Lektüre ihrer  wissenschaftstheoretischen
Schriften möchte man fast sagen, die Marxsche  Dialektik falle oder stehe
mit der Hegelschen Dialektik und umgekehrt die  Hegelsche Dialektik falle
oder stehe mit der Marxschen Dialektik.

Wie ist  aber diese »Schicksalsgemeinschaft« zu verstehen? Luxemburg
definiert die  Marxsche Lehre als »ein Kind der bürgerlichen
Wissenschaft«, dessen »Geburt«  aber habe »der Mutter das Leben gekostet«
(ebd., S. 376). Luxemburgs hoch  dialektischer metaphorischer Gebrauch der
Begriffe von »Mutter«, »Kind« und  »Leben« verdeutlichen, in welchem Sinn
das Verhältnis zwischen der klassischen  bürgerlichen Wissenschaft und der
Marxschen Lehre zu verstehen ist: im Sinn der  Hegelschen Kategorie der
Negation bzw. Aufhebung, wonach etwas wohl vernichtet  wird, aber in der
Form des Bewahrens des Positiven des Aufgehobenen, so daß das  Vernichtete
im Neuen weiterlebt. Auch Marx' Philosophie ist ein Kind der  bürgerlichen
Philosophie, insbesondere das der Hegelschen als die höchste Form  dieser
Philosophie. Bezugnehmend auf Friedrich Engels' Artikel
»Ludwig Feuerbach  und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie«
definiert Luxemburg »das  Wesen der Philosophie als die ewige Frage nach
dem Verhältnis von Denken und  Sein«, also »von menschlichem Bewußtsein in
der objektiven materiellen Welt«  (ebd., S. 370).

Diese »ewige Frage« wurde in der Philosophiegeschichte  erst von Hegel
bewußt zum Grundproblem der Philosophie erhoben. In der  »Einleitung« zur
»Wissenschaft der Logik« kritisiert er den bisherigen »Begriff  der
Logik«, weil er den »Stoff des Erkennens als eine fertige Welt außerhalb
des  Denkens an und für sich vorhanden« voraussetze und davon ausgehe, daß
»das  Denken für sich leer sei, als eine Form äußerlich zu jener Materie
hinzutrete,  sich damit erfülle, erst daran einen Inhalt gewinne und
dadurch ein reales  Erkennen werde.«4 Im Rahmen einer so konzipierten
Logik bleibt aber das Denken  bei sich, es geht nicht über sich hinaus.
Seine Modifikation bleibt deshalb als  »eine Modifikation seiner selbst,
es wird dadurch nicht zu seinem Anderen; das  selbstbewußte Bestimmen
gehört ohnedies nur ihm an; es kommt also auch in seiner  Beziehung
auf den Gegenstand nicht aus sich heraus zu dem Gegenstande: Dieser
bleibt als ein Ding an sich schlechthin ein Jenseits des Denkens.«5 Hegels
 implizite Kritik an Kant kann hier nicht überhört werden. Er begreift
seine  »Wissenschaft der Logik« deshalb als einen alternativen Entwurf
gegen Kants  Transzendentalphilosophie, mit der Kant jede Ontologie
ersetzen will, in der  begründet werden soll, wie das Denken über sich
hinausgehen und den Gegenstand  aneignen kann.

Nun sieht Marx in der Hegelschen »Logik« denselben Mangel.  Er gewinnt
diese Einsicht durch ein tiefes Studium der Hegelschen Philosophie  und
durch die Konfrontation seiner daraus gewonnenen philosophischen
Einsichten  mit den praktischen Zeit- und Streitfragen. Dieses Vorgehen
unterscheidet nach  Luxemburgs Darstellung Marx von anderen
Junghegelianern. Marx geht dabei von  Beginn an dem gleichen
»Hauptproblem« der Philosophie nach. Luxemburg schildert  Marx' Werdegang
in »Aus dem Nachlaß unserer Meister« (GW 1/2, S. 130-141). Sie  schildert,
wie Marx, getrieben von einer »inneren Krise« bzw. von »inneren  Kämpfen«
um das Hauptproblem der Philosophie und Emanzipation des Menschen, mit  der
Kritik des ganzen Rechtsgebiets anfängt und über eine Kritik der
Philosophie  und Politik schließlich zur Kritik der politischen Ökonomie
gelangt, die den  »Granitblock« seiner totalen Kritik der kapitalistischen
Gesellschaftsformation  bildet.

Ist aber damit die »Lösung des philosophischen Konflikts zwischen  Denken
und Sein, zwischen der materiellen Welt und dem Denkprozeß« (ebd., S.
139)
endgültig gefunden, ist damit Hegels Philosophie ein für alle mal
erledigt?  Keinesfalls! Im Gegensatz zu vielen Marxisten, die von einem
mechanistischen  Standpunkt aus den Marxismus auf seine ökonomische Lehre
reduzieren, kommt  Luxemburg zu dem Schluß, daß »von einem mehr oder
weniger ausgearbeiteten  Lehrgebäude (...) bei Marx nur auf dem
ökonomischem Gebiet die Rede sein« kann  (ebd., S. 364). »Dagegen, was das
Wertvollste seiner Lehre betrifft: die  materialistisch-dialektische
Geschichtsauffassung, so stellt sie nur eine  Forschungsmethode dar, ein
paar leitende geniale Gedanken, die den Ausblick in  eine ganz neue
Welt gestatten, die unendliche Perspektiven der selbständigen  Betätigung
eröffnen, die den Geist zu kühnsten Ausflügen in unerforschte Gebiete
beflügeln.« Doch »unbenützt liegt die herrliche Waffe, und die Theorie
selbst  des geschichtlichen Materialismus ist heute genauso
unausgearbeitet und  schematisch, wie sie aus der Hand ihrer Schöpfer
gekommen ist« (ebd.). Sie muß  deshalb ständig weiterentwickelt werden,
und es liegt sicherlich nicht an der  »Starrheit und Fertigkeit des
Marxschen Lehrgebäudes«, wenn es nicht weiter  ausgebaut wird. Die
Weiterentwicklung der Marxschen Philosophie ist aber eine  Aufgabe, die
nur dann bewältigt werden kann, wenn man das Denken an der  »schneidenden
Waffe der Hegelschen Dialektik« immer wieder schärft, um sich eben  jenen
»Adlerblick eines Marx« für das Ganze anzueignen.




1)  Man nehme z. B. jene Stelle aus Luxemburgs Schrift »Die Akkumulation
des  Kapitals. Eine Antikritik«, wo sie über die zum Teil
haarspalterischen
Debatten  zu Kants »Prolegomena« berichtet. Vgl. Rosa Luxemburg,
Gesammelte Werke, Bd. 5,  Dietz Verlag Berlin, 1990, S. 435. Im folgenden
wird diese Ausgabe im Text  zitiert mit GW, Band und Seitenzahl.

2) G. W. F. Hegel, Wissenschaft der  Logik II, in: Werke, Bd. 6,
Frankfurt/M. 1993, S. 73

3) Ebd., S.  75

4) G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik I, in: Werke, Bd. 5,
Frankfurt/M. 1993, S. 36f.

5) Ebd., S. 37

Source: Junge Welt  13/09/2006


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