[OPE-L] Krise und Kritik der Warengesellschaft

From: glevy@PRATT.EDU
Date: Sun Apr 01 2007 - 15:31:20 EDT


---------------------------- Original Message ----------------------------
Subject: Krise und Kritik der Warengesellschaft
From:    "Antonio Pagliarone" <antonio.pagliarone@fastwebnet.it>
Date:    Sun, April 1, 2007 8:43 am
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Krise und Kritik der Warengesellschaft

Kapitalismuskritik für das 21. Jahrhundert
Mit Marx über Marx hinaus: Das theoretische Projekt der Gruppe "EXIT!"
Der hier vorgelegte Text versucht, in einer Art "Momentaufnahme" den
Theoriebildungsprozess zusammenzufassen, wie er sich bis heute aus dem auf
dieser Internetseite vertretenen gesellschaftskritischen Ansatz entwickelt
hat. Er soll neu Interessierten als eine erste Orientierung dienen. Er ist
programmatisch, freilich nicht im Sinne eines politischen Programms, das
eine "Linie" festlegt, sondern im Sinne eines theoretischen Programms, das
es in vieler Hinsicht erst noch auszufüllen gilt.
Seit Ende der 80er Jahre erleben wir weltweit nicht nur den Todeskampf von
Marxismus, Sozialismus, Arbeiterbewegung und nationalen
Befreiungsbewegungen. Auch der klassische bürgerliche Welfare-Staat löst
sich auf, das keynesianische Paradigma ist nur noch Nostalgie, und die
Regimes der "Entwicklung" in der Dritten Welt verfallen auch in ihren
prowestlichen Varianten. Ebenso wenig haben die nostalgischen Revivals der
Dritte-Welt-Revolutionsromantik noch eine welthistorische
gesellschaftliche Eigenperspektive. Vielmehr handelt es sich bei ihnen um
Abfallprodukte der Globalisierung wie das allein von der Explosion des
Ölpreises gesponserte vulgärmarxistische Caudillo-Regime von Chavez in
Venezuela, das sich mit dem antisemitischen Islamismus verbündet, oder um
ethno-populistische Strömungen wie diejenige der mexikanischen Zapatistas,
die das gegenstandslos gewordene nationale Entwicklungsprogramm in eine
basisdemokratische folkloristische Selbstverwaltung des Elends verwandelt
haben.
Im weltgesellschaftlichen Maßstab werden die alten linken Paradigmen von
Reform und Revolution im herkömmlichen Verständnis hinfällig, weil es
keinen Horizont staatlich organisierter Regulation und Transformation mehr
gibt. Überall hissen die übrig gebliebenen Institutionen des ehemaligen
sozialen Interessenkampfes die weiße Fahne der Kapitulation. Der Begriff
der "sozialen Reform" hat sich in sein Gegenteil verwandelt und ist
semantisch von der neoliberalen Gegenreform besetzt worden, die Schritt
für Schritt sämtliche sozialen Errungenschaften, Sicherungssysteme und
öffentlichen Dienste auf ihren immer schon darin enthaltenen repressiven
Kern reduziert. Das neoliberale Paradigma ist keine distinkte Position
mehr, sondern parteiübergreifender Konsens bis weit in die Linke hinein,
die nur noch kraftlose Modifikationen oder als Scheingegensatz
rückwärtsgewandte Ideologien einer vergangenen Epoche formulieren kann.
Deshalb fällt die Gegenwehr immer schwächer aus; selbst große Streiks und
aufflackernde Massenbewegungen enden regelmäßig mit Niederlagen und
Resignation.
Wie es scheint, hat der Kapitalismus auf der ganzen Linie gesiegt. Und das
nicht etwa bloß als äußere repressive Macht, sondern im Inneren der
Subjekte selbst. Das scheinbare "Naturgesetz" des Marktes und die negative
Universalität der Konkurrenz werden als unüberschreitbare Bedingungen
menschlicher Existenz erlebt, obwohl die Resultate verheerend, demütigend
und unerträglich sind. Je deutlicher es wird, dass diese planetarische
Ordnung der Gesellschaft auf soziale und ökologische Selbstzerstörung
hinausläuft, desto verbissener klammern sich die Individuen an den
Kategorien und Kriterien dieser negativen Form von Vergesellschaftung
fest, die sie verinnerlicht haben. In demselben Maße, wie sich die
bürgerliche Vernunft in jene Barbarei auflöst, vor der Marx gewarnt hatte,
verweigert das gesellschaftliche Denken kritische Reflexion und beschwört
eine kapitalistische "Zivilisation", deren positiver Fortschritt häufig
nur ideologisch behauptet und imaginiert wurde. Auch die militärische
Gewalt der kapitalistischen Weltpolizei löst nicht die Probleme, sondern
verstärkt eher das destruktive Chaos und die Perspektivlosigkeit (wie im
Irak seit der Intervention 2003). Der Kapitalismus hat nur in Form seiner
eigenen Krise gesiegt, die aber zur Krise der berühmten "handelnden
Subjekte" selbst geworden ist und deshalb keinen Weg der sozialen
Emanzipation mehr öffnet. Die neue Qualität der Krise paralysiert die
Kritik, statt sie zu mobilisieren.
Diese Paradoxie verlangt nach einer Erklärung. Im deutschsprachigen Raum
hat sich seit Ende der 80er Jahre eine theoretische Position
herausgebildet, die sich diesem Problem stellt. Dabei wurde der Versuch
unternommen, die "linke Geschichte" von 150 Jahren Marxismus und
Arbeiterbewegung kritisch aufzuarbeiten. Die Gruppe "EXIT!" um die
gleichnamige Theoriezeitschrift begreift sich selbst als Resultat dieser
Bemühungen und betreibt ihre aktuelle Weiterentwicklung. "EXIT!" setzt
sich dabei gewissermaßen von innen heraus mit dem Marxismus auseinander,
um die Marxsche Theorie in eine neue Gestalt zu transformieren, die in den
Horizont des 21. Jahrhunderts eintreten kann. Deshalb müssen unbarmherzige
Fragen an das marxistische Denken gestellt werden. Der Marxismus gilt doch
als die theoretische Gestalt der Kapitalismuskritik par excellence. Warum
gerät er selber ausgerechnet zusammen mit dem Gegenstand seiner Kritik in
seine bisher schwerste Krise? Warum findet er keine Antwort auf die neue
Weltsituation an der Schwelle des 21. Jahrhunderts? Warum wirkt sein
ganzer Begriffsapparat so hoffnungslos veraltet?
Die Problemlage ist nicht völlig neu, auch wenn sie sich erst seit dem
Zusammenbruch der Sowjetunion zugespitzt hat. Schon seit den 60er Jahren
war absehbar, dass das traditionelle marxistische Paradigma erschöpft ist
und der kapitalistischen Entwicklung nicht mehr folgen kann. Zwar schienen
die sich mehr oder weniger marxistisch legitimierenden nationalen
Befreiungsbewegungen der 3. Welt gerade erst ihrem Höhepunkt zuzustreben
(in Wirklichkeit sollten sie bald danach erlöschen). Unübersehbar begann
aber der bürokratische Staatssozialismus des Ostens seine innere
Entwicklungsfähigkeit und äußere Anziehungskraft einzubüßen. Ebenso
deutlich war bereits zu erkennen, dass die westliche Arbeiterbewegung nach
mehr als einem Jahrhundert ihrer Wirksamkeit keine Kraft mehr hatte und
zum historischen Auslaufmodell wurde.
Aus der Sicht von "EXIT!" war die sogenannte Neue Linke im Kontext der
Studentenbewegung von 1968 noch nicht in der Lage, den neuen
Problemhorizont zu erfassen und ein anderes, weiter gehendes Paradigma der
Kapitalismuskritik zu entwickeln. Sie beschränkte sich im wesentlichen
darauf, das historische Material des bisherigen Marxismus und Anarchismus
zu sichten, einige Varianten und Subströmungen des alten Linksradikalismus
noch einmal als eine Art Gespenster-Revue zu "inszenieren" und das ganze
Spektrum der traditionellen Organisationsformen im Miniaturformat von
Sekten zu wiederholen. Die umfangreiche Literatur des 70er-Jahre-Marxismus
war größtenteils nicht originell, kaum mehr als ein Nachklang von
Kommentaren zu einer bereits abgestorbenen Geschichte in Gestalt von
politischen und akademischen Fleißarbeiten. Heute verstaubt sie in den
Bibliotheken.
Ebenso deutlich grenzt sich "EXIT!" vom sogenannten postmodernen Denken
ab, das parallel und in Vermittlung mit der Neuen Linken versuchte,
ausgerechnet durch eine "Abrüstung der Theorie" den traditionellen
Marxismus zu überwinden. Mit dem pejorativen Begriff der "Großtheorie"
wurden die wichtigsten Gedankengebäude des 19. und 20. Jahrhunderts,
insbesondere der Marxismus, unter den Verdacht des Totalitarismus
gestellt. An die Stelle angeblich totalitärer Begriffe des
gesellschaftlichen Ganzen mit ihrer Differenz von Wesen und Erscheinung
sollte ein nicht-essentieller phänomenologischer Relativismus treten; die
Kritik der politischen Ökonomie wurde durch den "Kulturalismus" ersetzt,
die reale Analyse durch den Kult der Virtualität. Der Postmodernismus
wurde zur Modetheorie der 80er und 90er Jahre; auch eine ganze Generation
von jüngeren Linken ist damit aufgewachsen. Aber diese Theorie scheint
erst recht nicht geeignet, die Kapitalismuskritik auf die Höhe des 21.
Jahrhunderts zu bringen. Der real totalitäre "Terror der Ökonomie" hat den
postmodernen Kulturalismus und dessen phänomenologische Verkürzung der
kritischen Theorie vollständig blamiert. Die jüngsten Versuche, den
Arbeiterbewegungsmarxismus postmodern umzudeuten (so das
"postoperaistische" Denken von Hardt/Negri oder John Holloway), haben die
alten Kategorien bloß in eine andere Nomenklatur eingekleidet und
quasi-existentialistisch subjektiviert; die damit verbundene
"Theologisierung der Kritik" geht mit einer inhaltlich perspektivlosen
Selbst-Ästhetisierung der Bewegungen und dem Warten auf "das Ereignis"
einher, das an die Stelle inhaltlicher Kriterien für eine emanzipatorische
Umwälzung tritt.
EXIT!" hat einen ganz anderen Weg beschritten: zurück zur Kritik der
politischen Ökonomie, aber nicht im traditionellen Sinne des
"Arbeiterbewegungsmarxismus". Stattdessen geht es um jene Dimension der
Marxschen Theorie, die in der bisherigen Linken entweder völlig
ausgeblendet blieb oder bei einer Minderheit von fortgeschrittenen
theoretischen Reflexionen bestenfalls in ein abstrakt "philosophisches"
Räsonnement verbannt und hinsichtlich der praktischen Wirksamkeit in eine
imaginäre Zukunft ausgelagert wurde: nämlich um die Kritik des modernen
Fetischismus, um die Kritik der Warenproduktion als System, um die Kritik
der "Verwertung des Werts" (Marx) als "automatisches Subjekt" (Marx) der
Gesellschaft.
Diese Tiefendimension der gesamten Moderne in die Reflexion aufzunehmen,
hat zur Konsequenz, die basalen Kategorien des modernen
warenproduzierenden Systems nicht mehr als positive ontologische
Gegenstände zu verstehen wie der traditionelle Marxismus, sondern sie als
negative und historische Gegenstände einer radikalen Kritik zu
unterziehen. Zunächst gilt dies für die ökonomischen Kategorien im engeren
Sinne, also die betriebswirtschaftliche Rationalität, die "abstrakte
Arbeit" (Marx) und deren Ausdrucksformen Wert, Ware, Geld und Markt.
Befreiung ist erst jenseits dieser Kategorien denkbar, nicht "in" und
"mit" ihnen. Der traditionelle Marxismus wollte die Kategorien des
warenproduzierenden Systems nicht überwinden, sondern sie bloß "politisch"
moderieren. Aber die Politik und ihre institutionellen Daseinsformen
Staat, Demokratie und Nation bilden nur den anderen Pol des modernen
Fetisch-Systems, der durch die juristische Form der bürgerlichen Subjekte
konstituiert wird. Die ökonomischen und die politisch-juristischen
Kategorien sind die zwei Seiten derselben Medaille. Das moderne Subjekt
aller Klassen ist ein Schizo-Subjekt, gespalten in homo öconomicus und
homo politicus, in Bourgeois und Citoyen. Die Linke wollte immer nur den
Bourgeois durch den Citoyen bändigen, den Markt durch den Staat steuern,
die Ökonomie der "abstrakten Arbeit" durch die Politik regulieren, die
Subjekte des Geldes durch die Nation formieren. Es kommt aber darauf an,
beide Seiten des modernen Fetischismus gleichermaßen abzuschaffen, statt
immer nur die eine Seite gegen die andere auszuspielen.
Gewonnen wird so eine Perspektive, die sich nicht mehr bloß auf den
immanenten soziologischen Gegensatz der "Klassen" von Lohnarbeit
einerseits und Repräsentanz des Kapitals andererseits beschränkt, sondern
das gemeinsame Bezugssystem dieser Klassen ins Visier nimmt. Das
Obsoletwerden dieses gemeinsamen Formzusammenhangs manifestiert sich
aktuell auch im Absturz der neuen Mittelklasse, die ein Produkt der
negativen kapitalistischen Vergesellschaftung war. Der nostalgische Bezug
auf den alten Klassenkampf ideologisiert weitgehend nur die immanenten
Betroffenheits-Interessen der abstürzenden Mittelklasse, die das
vergangene "Arbeits"-Paradigma noch einmal für sich reklamieren möchte
(auch in neo-utopischen Versionen), statt den kapitalistischen
Vergesellschaftungsmodus ins Visier zu nehmen und im Unterschied zur alten
Arbeiterbewegung darüber hinauszudenken.
Hatte der traditionelle Klassenkampf-Marxismus nur die äußerliche
juristische Aneignung des Mehrwerts durch die Kapitalisten
problematisiert, so thematisiert "EXIT!" die zugrunde liegende
gesellschaftliche Form des "automatischen Subjekts". Der Mehrwert ist dann
kein positiver Gegenstand mehr, den die einen haben und die anderen nicht
haben, den man einklagen oder wegnehmen könnte. Vielmehr handelt es sich
um einen alle handelnden Subjekte übersteigenden irrationalen Selbstzweck.
"Verwertung des Werts" bedeutet die kybernetische Rückkoppelung des Werts
auf sich selbst, als eine Art gesellschaftliche Maschine. Wie der Wert als
Form der endlosen Akkumulation, so wird die "abstrakte Arbeit" als deren
Inhalt ebenso zum irrationalen Selbstzweck, gleichgültig gegenüber jeder
sozialen und materiellen Qualität.
Der traditionelle Marxismus hat Form und Inhalt des modernen Fetischismus
zu ontologischen, transhistorischen Bedingungen gemacht, zur angeblichen
conditio humana. Es kommt aber darauf an, diese Kategorien zu
historisieren und damit ihre Überwindung überhaupt erst denkbar zu machen.
Die Kapitalismuskritik des traditionellen Marxismus beschränkte sich auf
die Kritik der äußerlichen juristischen Hülle des Privateigentums, während
Form und Inhalt der kapitalistischen Reproduktion selbst kritiklos
positiviert wurden. Wert und "abstrakte Arbeit" als "Arbeit" überhaupt,
als "Verausgabung von Nerv, Muskel, Hirn" (Marx), bleiben jedoch nicht als
ontologische Grundlage "nach dem Kapitalismus" übrig, wie es eine auf die
juristische Form und die Distribution verkürzte Kritik des Mehrwerts nahe
legt; vielmehr bilden "Arbeit" und "Wert" das Dasein des Mehrwerts und
damit des Kapitals oder des "automatischen Subjekts" selbst. Nicht die
gerechte Verteilung des Werts, sondern seine Abschaffung als irrationale
Form eines destruktiven "abstrakten Reichtums" (Marx) muss das Programm
der Kritik sein. Nicht der "Standpunkt der Arbeit" und der "Stolz auf die
Wertschöpfung" führen über den Kapitalismus hinaus, sondern im Gegenteil
die radikale Kritik an den modernen "Realabstraktionen" von Arbeit und
Wert.
Vor diesem Hintergrund firmiert der theoretische Ansatz von "EXIT!" oft
unter dem Label "Wertkritik" oder "Arbeitskritik". Aber in diesem
Zusammenhang allein erschöpft sich der moderne Fetischismus nicht; eine
auf Wertform und Arbeitssubstanz beschränkte Kritik wäre selber noch
verkürzt und reduktionistisch. Es geht auch darum, den metaphysischen
Charakter aller modernen Gesellschaft und ihres "automatischen Subjekts"
in die Kritik einzubeziehen. Darauf deutet schon der Marxsche
Fetisch-Begriff hin. Der Fetischismus des modernen warenproduzierenden
Systems bildet nicht nur eine "Analogie" zu religiösen Vorstellungen, wie
es bei Marx heißt, und er kann auch nicht als bloße "Ideologie" im Sinne
eines "Verschleierungen" aufsitzenden Denkens gefasst werden, sondern er
ist eine selber metaphysische und gleichzeitig reale Konstitution der
Gesellschaft und ihrer materiellen wie kulturell-symbolischen
Reproduktion. Die Moderne hat in ihren gesellschaftlichen Beziehungen die
Metaphysik nicht überwunden, wie sie selber glaubt, sondern sie nur aus
der alten religiösen Verankerung in der Transzendenz heruntergeholt in
eine rein irdische Immanenz; sie ist nicht "postmetaphysisch", sondern
gegenüber den alten agrarischen Formationen in einer neuen Weise
"realmetaphysisch". Die Religion wurde als himmlisches Steuerungsprinzip
der Reproduktion nur abgelöst und zur "privaten Glaubenssache" gemacht, um
an ihre Stelle das nicht weniger metaphysische irdische Steuerungsprinzip
des Kapitalverhältnisses zu setzen. Das "automatische Subjekt" des
modernen warenproduzierenden Systems ist nicht die befreite menschliche
Vernunft, sondern das Paradox einer in Form der Wertabstraktion blind
prozessierenden "immanenten Transzendenz", die jenseits menschlicher
Bedürfnisse und jenseits der physischen Welt bleibt, sich aber diese
Bedürfnisse und diese Welt zum äußeren Material gemacht hat. Darin
eingeschlossen ist eine neue Qualität von Destruktivkraft, die über alle
selbstzerstörerischen Potenzen früherer Fetischformationen hinausgeht.
Die kritische Dechiffrierung der modernen Realmetaphysik schließt eine
radikale Kritik an der Aufklärung als der philosophisch-ideologischen
Grundlage alles modernen Denkens ein. Die Aufklärung war nicht nur von
Grund auf repressiv, indem sie die Ideen lieferte für die Disziplinierung
der Menschheit zur "abstrakten Arbeit" und zur damit verbundenen
umfassenden Menschenkontrolle, wie Foucault phänomenologisch gezeigt hat.
Sie war auch maßgeblich beteiligt an der Konstitution des modernen
schizoiden Subjekts, indem sie die realmetaphysischen Formen zur positiven
Vernunft erhob und die kapitalistische Umwälzung als Geschichtsmetaphysik
des "Fortschritts" darstellte.
Der traditionelle Marxismus war nicht viel mehr als ein Wurmfortsatz der
bürgerlichen Aufklärung; wie den Mehrwert wollte er auch das ideelle
"bürgerliche Erbe" einklagen, um es weiterzuführen statt damit zu brechen.
Was der Marxismus von der Aufklärung "geerbt" hat, ist gerade die falsche
Ontologisierung der basalen Kategorien kapitalistischer
Vergesellschaftung. Die politische Illusion der Linken bestand im
wesentlichen darin, die bürgerlichen Ideale der Aufklärung gegen die
bürgerliche Wirklichkeit einzuklagen, statt diese Ideale als positive
Ideologie dieser negativen Wirklichkeit zu enthüllen. Die Ansätze zu einer
Aufklärungs- und Subjektkritik in den postmodernen Theorien andererseits
konnten nicht über den Marxismus hinausführen, weil sie kulturalistisch
reduziert blieben und die Kritik der politischen Ökonomie nicht
weiterentwickelten. Indem die postmoderne Kritik sich an den Kategorien
vorbeimogeln wollte und gerade diese entscheidende Dimension als
angeblichen "Ökonomismus" beiseite schob, statt darin die fetischistische
Realmetaphysik der Moderne zu erkennen, blieb sie phänomenologisch
verkürzt und in der kapitalistischen Ontologie gefangen. Deshalb sind die
meisten Postmodernen auch zum bürgerlichen Subjekt und zu einer
oberflächlichen Politik zurückgekehrt.
Die Weiterentwicklung der Marxschen Theorie von einem positivistischen zu
einem radikal kritischen Verständnis der modernen gesellschaftlichen
Kategorien und ihres Zusammenhangs kann nicht bei einem
abstrakt-universalistischen Verständnis stehen bleiben. Dieses würde
selber noch die moderne Realmetaphysik reproduzieren. Vielmehr geht es
darum, auch die positive Universalität des aufklärerischen Anspruchs zu
destruieren. Der moderne Sexismus, der Rassismus und der Antisemitismus
sind grundsätzlich im Denken der Aufklärung selbst enthalten, weil sie
sich strukturell auf das realmetaphysische moderne warenproduzierende
System beziehen, indem sie dessen Widersprüche destruktiv verarbeiten.
Das "automatische Subjekt" ist keineswegs geschlechtsneutral, sondern hat
vielmehr ein bestimmtes Geschlechterverhältnis zur wesentlichen
Voraussetzung. Wie die Moderne die Metaphysik als Gesellschaftsverhältnis
nicht überwunden, sondern neu konstituiert hat, so hat sie auch den
patriarchalen Charakter des "christlichen Abendlands" nicht überwunden,
sondern neu konfiguriert und versachlicht. Moderne patriarchale Herrschaft
ist nicht als äußerliches soziologisches Verhältnis zu verstehen, das im
Gegensatz zum abstrakten Universalismus der Warenform stehen würde und in
diesem aufgehoben werden könnte, sondern sie bildet ein zentrales Moment
dieses Universalismus selbst. Alle Momente der gesellschaftlichen
Reproduktion, des persönlichen Lebens und der sozialen Beziehungen, die
nicht in der abstrakten Logik des Werts aufgehen oder sich nur widerwillig
und unter Verlust ihres ganz eigenen Charakters in die abstrakte Logik des
Werts einordnen lassen (Kinderbetreuung, "Hausarbeit", "Liebes- und
Beziehungsarbeit", sozio-psychische Pufferfunktionen usw.), wurden vom
ökonomisch-politischen Universum abgespalten und historisch als "weiblich"
definiert. Kapitalismus ist also nicht bloß der Zusammenhang seiner
kategorialen Formen, sondern immer auch ein Prozess der Abspaltung. Das
Verhältnis des Werts ist gleichzeitig ein Verhältnis der Abspaltung
bestimmter Momente der sozialen Reproduktion, und erst beides zusammen
kann den kritischen Begriff der modernen Gesellschaft bilden. Der Wert und
sein Subjekt sind strukturell männlich bestimmt. Damit wird über Marx
hinaus das moderne Geschlechterverhältnis auf derselben begrifflichen
Ebene wie das Kapital selbst dargestellt und ist kein bloß untergeordnetes
Anhängsel mehr.
Der abstrakte Universalismus der Moderne erweist sich so in Wirklichkeit
als androzentrischer Universalismus; in Wertform und Arbeitssubstanz, in
Demokratie, Politik und modernes Recht ist männliche Suprematie
eingeschrieben. Auch wenn Frauen nie ausschließlich auf die Sphäre der
Privatheit und die abgespaltenen Momente beschränkt waren, sondern vor
allem nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend in die öffentlichen Sphären von
"abstrakter Arbeit" und Politik integriert wurden, blieb dort dennoch ihre
Position insgesamt eine untergeordnete. Nicht nur in der bürgerlichen
Privatheit, sondern ebenso in der bürgerlichen Öffentlichkeit ist die
geschlechtliche Abspaltung wirksam. Auch in den Bereichen von Politik und
Ökonomie werden den Frauen weitgehend Funktionen sozialpsychologischer
Abpufferung von Spannungen zugewiesen; auch hier gelten sie als
kulturell-symbolisches "Zeichen" für die zu domestizierende "Natur".
Immanent-empirisch bedeutet das: Sie werden im Durchschnitt schlechter
bezahlt, gelangen seltener in Führungspositionen und müssen doppelt so
viel leisten wie Männer, um halb so viel Anerkennung zu bekommen.
Gleichzeitig bedeutet die Einbeziehung von Frauen in die offizielle
Gesellschaft von Ökonomie und Politik nicht, dass ihre Zuständigkeit für
die abgespaltenen Tätigkeiten und Beziehungen im Raum der Privatheit
überwunden und auf Männer und Frauen gleichmäßig verteilt wird.
Stattdessen erleben Frauen in der Regel eine doppelte Belastung, indem sie
zugleich für Lohnarbeit und häusliche Reproduktionstätigkeiten zuständig
sind. Der Feminismus hat daraus die falsche Konsequenz gezogen, lediglich
die immanente Gleichstellung der Frauen einzuklagen, statt das der
geschlechtlichen Asymmetrie zu Grunde liegende Wert-Abspaltungsverhältnis
als solches radikal zu kritisieren. Da der androzentrische Charakter der
Moderne in die Wesensstruktur selbst eingeschrieben ist, kann er auf dem
Boden der universellen Warenform nicht durchbrochen werden.
Der abstrakte Universalismus der Moderne ist nicht nur ein
androzentrischer, sondern auch ein westlicher. Wie ein großer Teil der
nicht-westlichen Menschheit im Weltsystem der Warenproduktion marginal
blieb und aufgrund des historischen Rückstands über niedrige Stufen der
kapitalistischen Entwicklung nicht hinauskam, so war auch die globale
Verallgemeinerung der westlichen Subjektform mit einer destruktiven
sozio-kulturellen Tendenz und einer sowohl materiellen als auch
symbolischen "Zweitklassigkeit" verbunden.
Die universelle Konkurrenz, wie sie dem modernen warenproduzierenden
System inhärent ist, ruft in den handelnden Subjekten das Bedürfnis nach
Feindbildern hervor. Wo die Schwelle zur Kritik der modernen
Realmetaphysik nicht überschritten wird, verarbeiten die Subjekte ihre
Leidenserfahrung in Projektionen auf Gegensubjekte, die als
"Untermenschen" (Farbige) oder als "negative Übermenschen" (Juden)
konstruiert werden. Die Ideologien des Rassismus und Antisemitismus sind
so ebenso wie die Ideologie des Sexismus strukturell auf die moderne
Realmetaphysik bezogen. Das universalistische Subjekt ist wesentlich ein
männlich-weißes-westliches Subjekt (MWW). Die Verallgemeinerung der Form
dieses MWW-Subjekts führt zu vielfachen Brechungen im Bewusstsein der
außereuropäischen Menschheit und der Migranten, wobei neue Mischungen von
Sexismus, Rassismus oder "Ethnizismus" und Antisemitismus entstehen.
Auch im Hinblick auf das männlich-weiße-westliche Subjekt und den
androzentrischen Universalismus blieb die traditionelle Linke innerhalb
des Horizonts der modernen Realmetaphysik. Der Marxismus der
Arbeiterbewegung war in seinem Selbstverständnis androzentrisch und
reproduzierte die geschlechtliche Abspaltung ebenso wie die "abstrakte
Arbeit". Er war gleichzeitig seinem Ursprung nach weiß und westlich, den
farbigen und außereuropäischen Menschen gegenüber bestenfalls
paternalistisch und vielfach anfällig für rassistische Ideologeme. Vor
allem blieb der traditionelle Marxismus weitgehend blind für die Gefahr
des Antisemitismus, weil er dessen strukturellen Bezug auf die
kapitalistische Realmetaphysik nicht erkennen konnte. Die marxistische
Kritik am Sexismus, Rassismus und Antisemitismus kam nicht über den
unwahren Universalismus der bürgerlichen Aufklärung hinaus; deshalb blieb
sie hilflos. Und auch in dieser Hinsicht konnte der postmoderne
Kulturalismus die Defizite nicht überwinden, sondern nur verstärken. Die
phänomenologisch verkürzte postmoderne Kritik am Sexismus, Rassismus und
Antisemitismus blieb im "Kult der Differenz" stecken, ohne die
gesellschaftlichen Grundlagen dieser Ideologien in den Widersprüchen des
"automatischen Subjekts" herauszuarbeiten.
Wenn die Herausbildung von destruktiven Ideologien nur im Kontext der
modernen Realmetaphysik verstanden werden kann, so manifestieren sich
diese dennoch keineswegs "objektiv" und quasi naturgesetzlich. Ideologie
folgt nicht automatisch aus den gesellschaftlichen Formen von Wert,
"abstrakter Arbeit" und patriarchalem hierarchischem
Geschlechterverhältnis, sondern sie ist eine eigenständige negative
Leistung des Bewusstseins. Das Bewusstsein bezieht sich dabei zwar auf
seine gesellschaftlichen Voraussetzungen, aber nicht in einem bloßen
"Reflex", zu dem es quasi gezwungen wäre, sondern als negative
Entscheidung (Dezision). Individuen und Institutionen als Träger von
Ideologien sind somit auch für die daraus folgenden menschenfeindlichen
Handlungen verantwortlich zu machen. Man ist nicht objektiv bedingt
ideologisch (sexistisch, rassistisch, antisemitisch), wie man objektiv
bedingt "Geld verdienen" oder Waren kaufen muss. Deshalb ist nicht nur
Ideologie möglich, sondern auch Ideologiekritik und radikale Kritik der
Verhältnisse.
Das Apriori von Ideologie ist die affirmative Verarbeitung der
Existenzprobleme im Kapitalismus. Die verinnerlichten kapitalistischen
Lebensbedingungen werden nicht in Frage gestellt, sondern die
gesellschaftlichen Widersprüche (auch die eigenen inneren Widersprüche des
Subjekts) werden im Zuge der universellen Konkurrenz durch Projektion nach
außen abgewehrt. So ist es nicht allein die objektive Dynamik des
Selbstwiderspruchs im "automatischen Subjekt", von der die kapitalistische
Entwicklung und deren Krise bestimmt wird, sondern darin gehen immer
gleichermaßen die subjektiven und ideologischen oder kritischen
Verarbeitungsweisen ein. Erst beides zusammen macht den realen
gesellschaftlichen Prozess aus.
Ideologie kann die objektive Dynamik des "automatischen Subjekts" nicht
stoppen oder in eine andere Richtung lenken. Als eigenständiges Moment
kann sie aber die tatsächlichen Verlaufsformen mitbestimmen und manchmal
sogar entscheidend prägen. So bildete sich die nationalsozialistische
"deutsche Volksgemeinschaft", in deren Zentrum Auschwitz stand, zwar vor
dem Hintergrund der großen Krise in der ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts. Dennoch waren der Nationalsozialismus und seine Verbrechen
kein objektives Resultat der Krise, sondern ein Produkt subjektiven
ideologischen Willens der Deutschen. Dieser Wille manifestierte sich
gleichzeitig keineswegs jenseits der Logik des Werts. Im Gegenteil: Das
auf dem Weltmarkt reüssierende Nachkriegsdeutschland konnte von der
fordistischen Modernisierung des Nationalsozialismus profitieren. So
drückte die NS-Ideologie der realen Geschichte von Krise und
Modernisierung in Deutschland ihren unverwechselbaren Stempel auf und
legte eine in dieser Entwicklung enthaltene "äußerste Möglichkeit" offen.
Kritische Theorie ist deshalb heute nur noch als kritische Theorie nach
Auschwitz formulierbar.
Die neue theoretische Position von "EXIT!" wäre unvollständig, wenn sie
sich nicht selbst erklären könnte. Das bedeutet die Anforderung, den
eigenen historischen Standort zu bestimmen. Wir sind nicht klüger als
unsere Vorgänger in der Kapitalismuskritik, sondern wir befinden uns in
einer anderen, fortgeschrittenen historischen Situation. Es geht nicht
darum, eine endgültige, absolute, "dekontextualisierte" Wahrheit zu
verkünden, sondern dem neuen historischen Kontext Rechnung zu tragen und
ein neues theoretisches Paradigma zu entwickeln, das der vor uns liegenden
Epoche entspricht.
Aus dieser Sicht gehören die alte westliche Arbeiterbewegung, der
traditionelle Marxismus, die bisherige politische Linke, der
untergegangene staatsbürokratische "Realsozialismus" des Ostens sowie die
Bewegungen und Regimes "nationaler Befreiung" des Südens allesamt noch der
Aufstiegs- und Durchsetzungsgeschichte des modernen warenproduzierenden
Systems und seiner Realmetaphysik an. Alle diese Bewegungen gingen nicht
über die kapitalistische Ontologie hinaus, sondern sie reflektierten nur
die historische Ungleichzeitigkeit innerhalb dieser Ontologie. Es handelte
sich im wesentlichen um Prozesse einer nachholenden Modernisierung. Die
"unvollendeten Momente" des noch nicht ausgereiften warenproduzierenden
Systems wurden "links" besetzt; die Linke wurde zum Motor der
kapitalistischen Modernisierung selbst.
In diesem Sinne ist die Oktoberrevolution gewissermaßen als die
"französische Revolution des Ostens" zu begreifen. Es ging nicht um die
Überwindung der kapitalistischen Kategorien, sondern im Gegenteil um ihre
"nachholende" gesellschaftliche Installation; übrigens mit ganz ähnlichen
staatskapitalistischen Methoden wie einige Jahrhunderte zuvor im Westen.
Auch die späteren nationalen Befreiungsbewegungen der Dritten Welt folgten
diesem Muster. Diese Interpretation darf nicht auf den
naturwissenschaftlich-technologischen Aspekt im Sinne einer nachholenden
Industrialisierung reduziert werden. Vielmehr ging es auch um die
Installation der gesellschaftlichen Formen eines warenproduzierenden
Systems, also um die Ablösung persönlicher Verpflichtungen durch die
Monetarisierung und Ökonomisierung aller Beziehungen, um den Übergang von
agrarischen Traditionen zu bürgerlichen Subjekt- und Rechtsformen, um die
Durchsetzung (statt Abschaffung) der "abstrakten Arbeit" und der modernen
geschlechtlichen Abspaltung. Der emanzipatorische Horizont dieses
Prozesses war nichts anderes als der "Kampf um Anerkennung" innerhalb der
kapitalistischen Ontologie, und zwar um Anerkennung der peripheren und
abhängigen Regionen als eigenständige nationale Subjekte des Weltmarkts.
Dasselbe gilt letztlich für die westliche Arbeiterbewegung. Hier ging es
nicht um nationale, sondern um soziale Anerkennung, und zwar um die
juristische Anerkennung der Lohnarbeiter als formale Subjekte innerhalb
des warenproduzierenden Systems. Die bis in die zweite Hälfte des 19.
Jahrhunderts auf das Besitzbürgertum beschränkte offizielle Bürgerlichkeit
musste auf alle Gesellschaftsmitglieder ausgedehnt werden; nur so konnte
sich das "automatische Subjekt" die gesamte gesellschaftliche Reproduktion
unterordnen und einverleiben. Das Schizo-Subjekt von Bourgeois und Citoyen
wurde durch den Kampf um Koalitions- und Versammlungsfreiheit,
Streikrecht, allgemeines und gleiches Wahlrecht etc. auf die Lohnarbeiter
übertragen. Dadurch wurde die Arbeiterbewegung "politikfähig" und
"staatsfähig". Der Preis dafür war die Verinnerlichung der "abstrakten
Arbeit", die vollständige Unterwerfung unter das selbst geschaffene
"automatische Subjekt" und dessen Gesetzmäßigkeiten sowie die
Verallgemeinerung des bürgerlichen Geschlechterverhältnisses. Der
bisherige Begriff des "Sozialismus" lässt sich in allen seinen Varianten
auf den "juristischen Überschuss" dieses historischen "Kampfes um
Anerkennung" innerhalb der kapitalistischen Kategorien zurückführen.
Damit soll nicht gesagt werden, dass diese historische Beschränkung der
Kritik eine absolut zwangsläufige war; sie war bloß eine faktische. In den
sozialen Konflikten seit dem späten 18. Jahrhundert gab es mehrfach
Momente einer Spannung gegenüber den Anforderungen von "abstrakter Arbeit"
und geschlechtlichem Abspaltungsverhältnis; aber diese Spannung wurde
immer wieder in der Falllinie einer Weiterentwicklung der modernen
Realmetaphysik aufgelöst. Was gibt uns die Berechtigung, zu Beginn des 21.
Jahrhunderts nicht nur theoretisch ein neues Paradigma zu entwickeln,
sondern auch auf eine Vermittlung mit der gesellschaftlichen Praxis zu
hoffen? Die Antwort auf diese Frage findet sich darin, dass die Position
von "EXIT!" auch eine neue Theorie der kapitalistischen Krise einschließt.
Alle bisherigen Krisen waren Durchsetzungskrisen des Kapitalverhältnisses,
das noch einen historischen Entwicklungsraum vor sich hatte. Eben deshalb
konnten die sozialen Bewegungen den jeweils nächsten Schub der
Akkumulation positiv besetzen und waren nicht zu einer kategorialen Kritik
der gesellschaftlichen Formen gezwungen. Mit der dritten industriellen
Revolution der Mikroelektronik stößt das Kapital jedoch an seine von Marx
vorausgesagte absolute innere Schranke. Die "abstrakte Arbeit" als
Substanz des Kapitals wird durch den kapitalistischen Prozess selbst in
einem derartigen Ausmaß überflüssig gemacht, dass die bisherigen
Mechanismen der Kompensation erlöschen. Genau das ist der Grund, warum der
traditionelle Marxismus zusammen mit dem Gegenstand seiner Kritik selber
eine Krise neuer Qualität erlebt. Der globale Schub von Verarmung und
Verelendung bis in die kapitalistischen Zentren hinein und der Absturz der
neuen Mittelklasse können nicht mehr in Begriffen des alten
"Klassenkampfs" vom "Standpunkt der Arbeit" beantwortet werden. Die
kategoriale Krise verlangt jetzt erstmals eine kategoriale Kritik, und
darauf ist das selber modernisierungs-ideologisch beschränkte marxistische
Denken nicht vorbereitet.
Kategoriale Krise heißt, dass es sich nicht mehr bloß um eine
konjunkturelle ökonomische Krise oder um einen Strukturbruch beim Übergang
zu einem neuen "Akkumulationsmodell" handelt. Wie sich im krisenhaften
Prozess der Globalisierung zeigt, wird jetzt die immanente Schranke der
"abstrakten Arbeit" auch zur Krise der Politik und der Formen von Staat,
Demokratie und Nation. Bourgeois und Citoyen, die beiden Seelen in der
Brust des Schizo-Subjekts, fallen irreversibel auseinander. Darin
eingeschlossen ist eine elementare Krise geschlechtlicher und vor allem
männlicher Identität. Eine Flut von sexistischer Gewalt, Mobbing gegen
Frauen und eine Mobilmachung androzentrischer Ideologien im planetarischen
Ausmaß sind die Folge. Während sich der "Modernisierungs-Feminismus"
mangels Begriff der in die moderne Formgenese eingeschriebenen
geschlechtlichen Abspaltung ein immanentes Abschleifen der
Geschlechterhierarchie vormacht, wird nun in den um sich greifenden
konservativen Krisenideologien "die Frau" als kostenlose
Bewältigungs-Ressource und Instanz der "Mütterlichkeit" abgerufen, die den
sozialen Zerfall auffangen und auf deren Rücken er ausgetragen werden
soll. Ebenso verbreiten sich rassistische, "ethnizistische" und
antisemitische Stimmungen wie ein Lauffeuer.
In dieser weltgesellschaftlichen Krise die kategoriale Kritik am modernen
warenproduzierenden System und seiner Realmetaphysik zu entfalten, heißt
für "EXIT!" nicht, kurzfristige Konzepte zur Krisenbewältigung
auszuarbeiten und sie im ideellen Straßenhandel anzubieten. Kritik muss
prinzipiell negativ sein, und nur aus der grundsätzlichen Negation heraus
kann eine alternative Praxis entstehen. Es geht darum, den Einsatz der
menschlichen Ressourcen und Möglichkeiten in neuen gesellschaftlichen
Institutionen bewusst zu organisieren statt blind den "Gesetzen" einer
fetischistischen "zweiten Natur" zu folgen. War die kategoriale Kritik in
der Vergangenheit eine nicht eingelöste Möglichkeit, so wird sie jetzt zur
Überlebensnotwendigkeit. In dieser neuen historischen Situation wird
Ideologiebildung umso gefährlicher und Ideologiekritik umso notwendiger
(ohne auf die Analyse der objektiven Krisendynamik zu verzichten). Denn
aus der fundamentalen Krise des modernen Wert- Abspaltungsverhältnisses
folgt nicht zwangsläufig die Befreiung vom Fetischismus; diese ist
vielmehr handelnden Menschen aufgegeben. Ebenso ist der Weg in die
Barbarei und in den "gemeinsamen Untergang" (Marx) möglich. Der Ausgang
ist offen.
Die Negativität ist umso mehr gefordert, als die Kritik der modernen
Ontologie die Kritik des ontologischen Denkens überhaupt einschließt. Es
gibt keinen positiven ontologischen Boden, auf dem gebaut werden könnte.
Wie es kein Zurück zur Aufklärung, zu den bürgerlichen Revolutionsmythen
und zum "Arbeiterstaat" gibt, so gibt es erst recht kein Zurück zu einer
idealisierten Vormoderne. Die Theorie von "EXIT!" lehnt jede Agrarromantik
ab, wie sie z.B. bei der postsituationistischen Linken in Frankreich als
ideologische Reaktion auf das Ende des traditionellen Marxismus grassiert.
Ebenso wenig können die den Frauen zugeordneten Tätigkeiten, psychischen
Eigenschaften und kulturell-symbolischen Zuschreibungen, das zum
"Männlichen" komplementär Gedachte, positiv als das "ganz Andere" besetzt
werden. Frauen sind nicht die besseren Menschen, und das ihnen
Zugeschriebene bedeutet ebenso eine zwanghafte Reduktion menschlicher
Möglichkeiten wie die Unterordnung unter den kapitalistischen
Produktionsprozess.
Es bleibt die Frage zu stellen, in welcher Beziehung der neue theoretische
Ansatz von "EXIT!" zur Marxschen Theorie steht. Es handelt sich weder um
"Orthodoxie" noch um "Revisionismus", sondern um eine heterodoxe
Weiterentwicklung. Aus dieser Sicht ist von einem "doppelten Marx" zu
sprechen, indem sich bei Marx zwei verschiedene und widersprüchliche
Stränge der Argumentation nachweisen lassen: einerseits eine positive
Theorie der Modernisierung, die das Kapital als "notwendige", noch nicht
abgeschlossene Entwicklung begreift und dieser sogar eine
"zivilisatorische Mission" zuschreibt; und andererseits eine kritische
Theorie des modernen Fetischismus, also des zugrunde liegenden
kategorialen Zusammenhangs. Arbeiterbewegung und nationale
Befreiungsbewegung konnten nur mit dem ersten, dem "positivistischen" Marx
einer Theorie noch nicht abgeschlossener Modernisierung in der Hülle der
kapitalistischen Kategorien etwas anfangen, während sie den anderen Marx,
den kategorialen Kritiker, praktisch verschwinden ließen und eigentlich
gar nicht verstehen wollten. Für "EXIT!" kommt es umgekehrt darauf an,
gerade den zweiten Strang der Marxschen Argumentation aufzugreifen und mit
den Begriffen der modernen Realmetaphysik und des geschlechtlichen
Abspaltungsverhältnisses weiterzuentwickeln, also mit Marx über Marx
hinaus zu denken.
Es versteht sich von selbst, dass der neue theoretische Ansatz von "EXIT!"
die heftigsten Reaktionen der Abwehr seitens des restlichen traditionellen
Marxismus einschließlich der postmodernen Varianten hervorgerufen hat. Die
zunächst auf den deutschsprachigen Raum beschränkte Debatte um
"Arbeitskritik" und "Wert-Abspaltungskritik" hat sich inzwischen auf die
romanischen Länder ausgeweitet. Übersetzungen wichtiger Texte von
"EXIT!"-Autorinnen und -Autoren sind in Frankreich, Italien, Spanien und
Portugal, in Brasilien, Mexiko und Argentinien erschienen, inzwischen
sogar in China und in Japan. Umso notwendiger erscheint es, diese neue
Formulierung und Weiterentwicklung der Marxschen Theorie auch im
angelsächsischen Raum bekannt zu machen. Die Gruppe um "EXIT!" ist
überzeugt davon, dass das neue theoretische Paradigma "in der Luft liegt",
und hofft darauf, dass sich auch unabhängig von ihr ähnliche Ansätze und
Elemente überall in der Welt entwickeln werden. Die Debatte hat gerade
erst begonnen, und sie muss so transnational werden wie das Kapital
selbst, wenn das kritische Denken seine Paralyse überwinden will.


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