[OPE-L] Offener Brief an die InteressentInnen von EXIT!

From: glevy@PRATT.EDU
Date: Sun Jan 13 2008 - 18:20:50 EST


via  Antonio Pagliarone.

----- Original Message -----
From:
Sent: Sunday, January 13, 2008 7:38 PM
Subject:
Offener Brief an die InteressentInnen von EXIT!


>
EISZEIT FÜR KRITISCHE THEORIE?
> Offener Brief an die
InteressentInnen von EXIT!
>
> Zum Jahreswechsel ist es
auf dem postmodernen Jahrmarkt der Eitelkeiten
üblich, den
jeweils eigenen Laden in aller Bescheidenheit als
Erfolgsgeschichte
darzustellen und in Optimismus zu machen. Auch wenn es gar
nicht
stimmt, business as usual ist angesagt in allen gesellschaftlichen
Bereichen. Theoretische Reflexion droht wieder einmal im allgemeinen
Pragmatismus ersäuft zu werden, je mehr die Prekarisierung zum
alltäglichen
Lebenshintergrund geworden ist. Pragmatik im Sinne
eines Probehandelns und
eines offenen Verhältnisses zu den
menschlichen Ressourcen wie zur Natur
wäre freilich erst
möglich, wenn das "eiserne Gehäuse" der
kapitalistischen
"zweiten Natur" durch eine
gesamtgesellschaftliche Transformationsbewegung
aufgesprengt wird.
Solange davon nichts zu sehen ist, bedarf es einer
Distanz
kritischer Theorie zu allen immanenten Praxisformen. Der
Pragmatismus ist als -Ismus schon immer eine Ideologie und
verschränkt sich
mit destruktiven und ausgrenzenden
Verarbeitungsweisen der
> Krise, auch wenn er menschenfreundlich
oder gar emanzipatorisch
daherkommt.
> Wenn in den Medien
von einem "Linksruck" die Rede ist, ob in Teilen der
politischen Klasse hierzulande oder etwa in Lateinamerika, so hat das
nichts
mit einer gesellschaftlichen Wirkmächtigkeit kritischer
Reflexion zu tun.
Wesentliche Triebkraft des oberflächlichen
Stimmungsschwenks ist nicht die
weiter schwelende Weltkrise der 3.
industriellen Revolution, sondern im
Gegenteil die Illusion einer
ökonomischen Stabilisierung, obwohl der
vielbeschworene
Aufschwung schon wieder bröckelt. Während panikartige
Aktionen der Notenbanken das Ende der Defizitkonjunktur andeuten, wird
diese
hoffnungsvoll hochgerechnet zu einer langen Trägerwelle
der Prosperität, die
neue pragmatische
Handlungsmöglichkeiten eröffnen soll. Das
gesellschaftliche Bewusstsein möchte am liebsten irgendeinen Hauch
sozialer
Wärme spüren, ohne sich mit seinen
kapitalistischen Konstitutionsbedingungen
konfrontieren zu
müssen. Aber außer Knut ist nichts gewesen.
> Dass der
Markt der Ideen von einer billigen Konzepthuberei überschwemmt
wird, verweist nur auf zunehmende politische
Legitimationsschwierigkeiten.
Die offizielle Wirtschaftseuphorie
steht in krassem Gegensatz zur
praktischen Lebenserfahrung der
Mehrheit, bei der kein Aufschwung angekommen
ist. In dieser
Situation entsteht eine gewisse ideologische Spannung
zwischen dem
Finanzblasen-Management und der demoskopisch abhängigen
Politikerkaste. Der parteiübergreifende neoliberale Konsens
verschwindet
dabei nicht, sondern lädt sich umso mehr
populistisch auf, je heftiger man
sich gegenseitig des Populismus
bezichtigt. In Aussicht gestellte
Milderungen bei Hartz IV, die aber
keinen Cent kosten dürfen, Kampagnen
gegen jugendliche
"Ausländerkriminalität", Appelle an das
"schaffende"
Kapital und wohlfeile Kritik an
"überhöhten Managergehältern" jagen sich
gegenseitig den Rang ab. Andererseits soll die Klimadebatte samt
Grönland-Tourismus der Kanzlerin ökologisches
Problembewusstsein suggeriere
> n. Es fehlt nicht viel, und nach
Heiner Geissler treten die Partei- und
Regierungsmoralisten
scharenweise Attac oder Greenpeace bei, um gleichzeitig
die
überhöhten Abgaswerte der protzigen deutschen Autoindustrie
gegen die
europäische Kleinwagen-Konkurrenz zu verteidigen.
> Adressat sind im Grunde die vom Absturz bedrohten Mittelschichten,
die
gerade in der Prekarisierung ihre "neue
Bürgerlichkeit" zelebrieren möchten
und nach
gehobenem Öko-Food gieren, während die Lage der bereits voll
Deklassierten auf schlechte Ernährungsgewohnheiten und mangelnde
Erziehung
zurückgeführt wird. Dazu passen die selektiven
Gebärprämien einer
Familienministerin, die das drohende
biologische Aussterben der deutschen
Mittelschicht umtreibt; im
Gegenzug will man die bekanntlich kindermordenden
Unterschichtsfrauen an die staatliche Kandare nehmen, obwohl die Mittel
der
Jugendämter weiter zusammengestrichen werden. Und je
haarsträubender die
Widersprüche klaffen, desto lauter
ertönt der Appell an den "Bürgersinn", um
mitten
in der zusammenphantasierten Prosperität die sich voranfressenden
"gesellschaftlichen Naturkatastrophen" pragmatisch zu
bewältigen.
> Die Gründung der Linkspartei bildet
keinen Kontrapunkt zu diesem seltsamen
"Linksruck",
sondern sie ist dessen integraler Bestandteil; nicht nur
hinsichtlich der wieder aufgewärmten Illusion vom
politisch-demokratischen
Dienstweg. Der Parteimarxismus ist
Geschichte, der "Marsch durch die
Institutionen"
längst gescheitert. Pate stand nicht eine Erneuerung der
Marxschen Theorie, sondern eine bestenfalls keynesianische
Linkspragmatik,
wie sie theoretisch bei den Restbeständen der
Traditionslinken ebenso wie in
der globalisierungskritischen
Bewegung grassiert. Aber der Populismus des
Lafontaine-Flügels
fällt selbst noch hinter die bürgerliche VWL-Theorie von
Keynes zurück. Die linksnationalistische Orientierung dieser
dominierenden
Position geht einher mit einem unheimlichen
"Internationalismus", der die
alten Parolen auf die
unheilige antiamerikanische Allianz des
caudillistischen
Öl-Regimes eines Chavez mit dem antisemitischen
Mullah-Regime
im Iran auszurichten sucht. Für kritische The
> orie kann es
nicht auf der Agenda stehen, in solchen Zusammenhängen nach
einem Nährboden zu schnüffeln und auf die
12-Prozent-Fleischtöpfe zu
schielen.
> Auch die
Bewegungslinke erweckt keine Frühlingsgefühle für kritische

Theoriebildung, ganz im Gegenteil. Nach Heiligendamm wird die
Erschöpfung
einer bloß symbolischen Protestkultur
deutlich. Je mehr die Erinnerung an
die radikale Kritik der
politischen Ökonomie verblasst ist, desto offener
sind auch die
Protestbewegungen für Ideologeme der verkürzten
Kapitalismuskritik geworden, an die rechtspopulistische
Querfrontstrategien
anknüpfen. Solange dieser Zusammenhang
nicht offengelegt und stattdessen der
strukturelle Antisemitismus
eines Affronts gegen das "parasitäre" Finanz-
und
Informationskapital als "unschuldig" gedeckt wird, nützt
die
Alibi-Distanzierung von offen antisemitischen
"Entgleisungen" nichts.
> Erkenntnistheoretische
Grundlage solcher Haltungen ist ein
"Bewegungspragmatismus", wie er etwa in der postoperaistischen

Subjektivierung der kapitalistischen Fetischverhältnisse
angelegt ist, deren
Kehrseite die ideologiekritische Entwaffnung
bildet. Nachdem in dieser
Hinsicht eine Zeitlang das offiziell
staatsferne Trial-and-Error-Prinzip der
mexikanischen Zapatistas als
Paradigma einer im Kern theoriefeindlichen
Romantik gedient hatte,
scheint sich nun eine neo-etatistische
Umorientierung eines Teils
der Bewegungslinken anzudeuten. Der postmoderne
Differenz-Leninismus
setzt wieder mehr auf die Staatlichkeit des
lateinamerikanischen
"Linksrucks" á la Chavez und möchte auch hierzulande

die parlamentarische Parteipolitik in die unverbindliche
"Vielfalt" der
Ansätze eingemeinden, um sich
endgültig gegen theoretische Reflexion zu
immunisieren.
> Der Frankfurter "No-way-out"-Kongress im Dezember machte
seinem Namen alle
Ehre, indem er die inhaltlichen Widersprüche
nicht thematisieren, sondern
erst recht in die Bewegungspragmatik
auflösen wollte. Der Jahreszeit
entsprechend kam so kaum mehr
als eine Art Christkindlesmarkt des linken
Pluralismus heraus.
"Wegweisend" war die Veranstaltung offenbar bloß
insofern, als die Kritik des bürgerlichen
Geschlechterverhältnisses im
offiziellen Programm nur noch als
Schrumpfversion auftauchte und damit das
Scheitern des Feminismus in
der Bewegungslinken dokumentiert wurde. Der
theoretisch
abgerüstete androzentrische Universalismus des hausfrauisierten
Mittelschichts-Mannes scheint das Maß aller Dinge zu sein.
> In diesem Ambiente musste natürlich auch eine hemmungslos
gemäßigte
Ramsch-"Wertkritik" mitschwimmen, um
dem unterbelichteten Teil des Publikums
zu verkünden, wie man
sich im eigenen Szene-Mief ein Stück weit zum "neuen
Mann-Menschen" hochzüchtet. Wenn die theoretische Schärfe
der Subjektkritik
nur ein wenig durch stumpfen Pragmatismus
gemildert wird, so die Botschaft,
dann bewegt man sich zumindest mit
dem Hintern fast schon "jenseits der
Warenform". Nachdem
dabei die Umsonstläden und alternativen
Fahrrad-Werkstätten anscheinend ein wenig an Reiz verloren haben,
soll jetzt
eine virtuelle "Peer-Ökonomie" die
beschäftigungstherapeutischen Bedürfnisse
der kleinen
Sozialbastler befriedigen. Ein Beitrag zur Erneuerung radikaler
Kritik ist das zwar höchstens in dem Sinne, wie eine Viererbob-Crew
aus
Jamaika auch einmal an den olympischen Winterspielen
teilgenommen hat. Aber
die "wertkritisch" angehauchten
Mittelschichts-Sprösslinge stehen nun einmal
auf anspruchslose
Unterhaltung. Und wei
> l in diesem Rahmen der Pluralismus
höchst dehnbar ist, durfte 2007 im
"Bravo"-Magazin
der Wiener Billig-Wertkritik auch das höchst pragmatische
Räsonnement über die existentiellen Sorgen islamistischer
Selbstmordattentäter zu Wort kommen, deren Motive bekanntlich vor
allem in
der hohen Kindersterblichkeit des Nahen Ostens zu suchen
sind. Nun, wenn es
denn der Erhöhung der notleidenden
Abo-Zahlen dient...
> Eine neue Eiszeit also für die
wert-abspaltungskritische Theoriebildung
von EXIT!, weil diese ein
unversöhnlicher Feind des falschen Pragmatismus
sein muss, der
die Reflexion stets instrumentell und
legitimationsideologisch
verbiegt? Die berühmte Vermittlung von
theoretischer Kritik und
praktischer Umwälzung kann einzig dort einsetzen,
wo sich eine
gesamtgesellschaftliche soziale Bewegung mit realer
Eingriffsmacht
gegen die Krisenverwaltung formiert. Die
Klassenkampf-Ideologie ist
nicht deswegen zu kritisieren, weil sie den
sozialen Kampf
propagiert, sondern weil sie anachronistisch in
Arbeitsontologie,
Wertform und geschlechtlichem Abspaltungsverhältnis
befangen
bleibt. Die Parole "Entkoppelt euch!" wird zur hohlen Phrase,
wenn
sie die Not zur Tugend macht, um sich an der negativen
Vergesellschaftung
vorbei in die Büsche
alternativ-ökonomischer Inseln zu schlagen, die nicht
umsonst
zunehmend im "Second Life" des virtuellen Raums angesiedelt
sind.
> Es ist nicht der Beruf kritischer Theorie, die Leute
"dort abzuholen, wo
sie sind". Das ist der Beruf des
pragmatischen Politikastertums und der
Populisten, und sei es in
"antipolitischer" Camouflage. Solange die Schwelle
des
realen Widerstands und der gesamtgesellschaftlichen Konfrontation nicht

erreicht ist, kann die wert-abspaltungskritische Theorie nur die
aufflackernden sozialen Konflikte der immanenten Widerspruchsbearbeitung

analytisch und ideologiekritisch begleiten, ohne sich die
begriffliche
Distanz ausreden zu lassen. Der Beitrag theoretischer
Praxis zur Umwälzung
der Verhältnisse besteht vor allem
darin, unbeirrt auf ihrem eigenen Terrain
die neue
Kapitalismuskritik und damit die "Begriffszertrümmerung"
der noch
lange nicht erledigten alten Paradigmen weiterzuentwickeln.

> Der Appell, ein solches Programm materiell zu
unterstützen, mag am
Mainstream des Bewegungspragmatismus
vorbeigehen. Trotzdem wissen wir, dass
es einige Leute gibt, die
daran interessiert sind, dass die Stimme von EXIT!
nicht verstummt.
Für Seminare, Arbeitstreffen und publizistische Vorhaben
benötigen wir dringend weitere finanzielle Mittel. Deshalb die
Aufforderung
an die InteressentInnen, auch 2008 etwas für
dieses Projekt zu tun, ob aktiv
oder passiv. Die Möglichkeiten
sind dieselben wie immer.
>
> Robert Kurz für die
EXIT!-Redaktion, Januar 2008
>
> Spenden bitten wir zu
überweisen auf das Konto:
>
> Verein für
kritische Gesellschaftswissenschaften
> Postbank Dortmund
> Kontonr.: 0 446 551 466
> BLZ: 440 100 46
>
> Für Überweisungen aus dem Ausland:
> IBAN DE13
4401 0046 0446 5514 66
> BIC PBNKDEFF
>
>
Bestellformular für ein Abonnement der Zeitschrift EXIT!:
http://www.exit-online.org/pdf/Abo-Formular.pdf
>
>
Antragsformular für den Beitritt zum Verein für kritische
Gesellschaftswissenschaften (EXIT!-Träger- und Förderverein):

http://www.exit-online.org/link.php?tabelle=kontakt&posnr=5> gesendet von: Carsten Weber
> \Hinweis: Mail-Antworten
bitte immer an folgende Mail-Adresse:
info@exit-online.org







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