Horizon 202
Vor kurzem tauchte in der Hasselblad-Usergroup (HUG) die Scherzfrage auf: Was ist der Unterschied zwischen einem Kunstmaler und einem Fotografen? Antwort: Der Maler spricht nicht über seine Pinsel.
Es ist wahr, Fotografen sprechen verdammt viel über ihre Ausrüstung. Ich glaube, wir sprechen so viel darüber, weil wir auch viel über unsere Ausrüstung nachdenken, und weil wir stets auf der Suche nach der besten Kamera, dem besten Objektiv, dem besten Zubehör für bestimmte fotografische Aufgaben sind.
Zum Beispiel dachte ich über ein Jahr lang darüber nach, ob ich mir eine Panoramakamera kaufen sollte, oder vielleicht eine 35mm Sucherkamera. Der "ideale" Kompromiss wäre natürlich die Hasselbald XPan. Aber zusammen mit dem für mich am sinnvollsten scheinenden 30mm Objektiv wäre die XPan eine beträchtliche Belastung der Brieftasche, egal, ob ich nun in Schilling oder in Euro rechne. Ich zog auch die Linhof Technorama mit der 72-er Optik in Erwägung und schaute auch auf die Homepage und die Testberichte von Noblex Kameras. Die ungewöhnliche Perspektive der Noblex scheint gewöhnungsbedürftig, vor allem wenn man den Preis dieser Kameras bedenkt. (Zwei recht widersprüchliche Praxisberichte über Noblex sind auf dieser "Luminous Landscape" Seite zu finden.)
Auf meiner jüngsten Prag-Reise sah ich eine noblex in einer Auslage - aber war es wirklich eine? Nein, es war eine "Horizon 202", und sie war mit 11000 Kronen ausgepreist, das sind knapp über 300 Euro. In Österreich, so sagte mir ein befreundeter Händler, den ich anrief, gebe es keinen Importeur für diese Kameras mehr, aber sie habe rund 800 Euro gekostet, als es sie noch gab. Ich ging in den Laden und erfuhr, dass es sich tatsächlich um eine neue Kamera handelte und kein Gebrauchtgerät. Also kaufte ich eine Russische Kamera mit rotierendem Objektiv und -Schlitzverschlusssystem. Die Verkäuferin öffnete drei Schachteln, bevor sie mir Kamera aus der dritten gab. Da habe einer die russische Bedienungsanleitung ins Tschechische übersetzt, aber die liege noch nicht allen Kameras bei. Da ich die Sprache doch nicht verstünde, gebe sie mir eine originale Anleitung, entschuldigte sie sich. Ich beschloss, ihr nicht zu sagen, dass ich ein wenig Russisch verstehe. Gewisse Dinge sollte man in der Tschechischen Republik lieber nicht erwähnen, auch nicht gegenüber Leuten, die mit Russischen Kameras handeln.
Was habe ich da gekauft? Hier sind die technischen Daten:
Film Format: 35 mm
Bildgröße: 24x58mm, das ergibt 22 Aufnahmen auf einem 36-er Film
Bildwinkel: 120° horizontal, 45° vertikal
Objektiv: MC (?) 2,8/28; Blendenwerte: 2,8-16
Belichtungszeiten: langsam: 1/2, 1/4, 1/8; schnell: 1/60, 1/125, 1/250*
Eingebaute, in den Sucher eingespiegelte Wasserwaage
Abmessungen: 117 x 146 x 73mm
Gewicht: 700g
*Der rotierende Zylinder bewegt sich mit zwei Geschwindigkeiten. Die langsamere benötigt etwa 3 Sekunden für eine Rotation, die schnelle etwa 1/4 Sekunde. Auf der Filmseite der Rotationstrommel bewegt sich ein vertikaler Schlitz während der Aufnahme über den Film. Dieser Schlitz wird bei Wahl einer schnelleren Belichtungszeit teilweise abgedeckt, lässt so weniger Licht auf den Film und bietet so den Effekt "schnellerer" Verschlusszeiten. Trotz dieser eher simpel anmutenden Mechanik belichtet die Kamera bislang recht präzise.
Im Gegensatz zur Noblex funktioniert die Horizon rein mechanisch und braucht keine Batterien. Die Rotation wird über eine Feder getrieben, und diese Feder wird zugleich mit dem Filmtransport wieder gespannt (was Doppelbelichtungen unterbindet), und es gibt auch keinen eingebauten Belichtungsmesser. Schätzen oder mit dem Handmesser ausrücken!
Die Horizon hat also eine rotierende Optik und einen rotierenden Schlitz"verschluss". Im Klartext: Das Objektiv befindet sich an der Vorderseite eines rotierenden Zylinders, der Schlitz ihr gegenüber an der Hinterseite. Der Film wird um die Zylinderrückseite eingespannt, was eine gewissen Geschicklichkeit erfordert. Drückt man auf den Auslöser, rotiert der Zylinder im Uhrzeigersinn, was bedeutet, dass sowohl das Objektiv als auch der Schlitz rotieren. Der Schlitz fungiert dabei als Verschluss, und er belichtet die 58mm des Films, die um die Hinterwand des Zylinders gekurvt liegen. Diese "Kurvenlage" gerantiert, dass jeder Teil des belichteten Films gleich weit von der Optik entfernt ist. Es kommt also nicht zu dem für Weitwinkeloptiken typischen Lichtabfall in den Ecken. Aber...
...aber die Bilder, die man mit dieser Kamera macht, unterscheiden sich deutlich von dem, was wir von "normalen" Weitwinkelkameras oder auch "Panoramakameras" gewohnt sind. Das zeigt das Bild der Wiener Hofburg deutlich: Da jeder Teil des Films im Grunde immer das Licht durch das Zentrum der Optik empfängt, gibt es keine Verzerrung - braucht aber auch keine optische Korrektur. Tatsächlich kann das Objektiv dieser Kamera sehr einfach fonstruiert sein - und ist es bei der Horizon wohl auch. Dennoch zeigten die ersten Testbilder, dass die Optik recht gut ist, vielleicht sogar sehr gut. Was aber macht nun den ungewöhnlichen Eindruck? Die meisten von uns sind gewöhnt, optisch korrigierte Bilder zu betrachten; die Rotationsbilder stoßen uns (mich auch) zunächst ab. Aber was ist anders, und wie funktioniert das System? Nun, stellt euch vor, ihr stündet mittig vor einem langen Gebäude. Dreht euch nach links und schaut gerade auf das linke Ende des Gebäudes. Messt die "Höhe" des Gebäudes mit euren Fingern an der ausgestreckten Hand. Nun dreht euch zur Mitte des Gebäudes und messt dort die "Höhe" - es wird viel größer aussehen. Während ihr euch nun weiter langsam nach rechts zum rechten Ende des Gebäudes dreht, folgt mit den Fingern der Ober- und Unterkante des Gebäudes. Welche Linie beschreiben die Finger? Richtig: Eine Kurve! Und genau wie eure Finger "sieht" eine Rotationskamera das Bild. Näheres ist größer, Ferneres kleiner, und: jede gerade horizontale Linie, die nicht präzis durch die Bildmitte geht, beschreibt eine Kurve, genau wie eure Finger der Dachkante in einer Kurvenlinie gefolgt sind.
Ist also eine Kamera dieses Typs nichts als eine Effektkamera? Für Architekturaufnahmen oder generell Aufnahmen von geraden, horizontalen Objekten sicher. In der Landschaftfotografie aber lassen sich mit so einer Kamera sicher Bilder realisieren, wo die Kurve entweder nicht auffällt oder nicht stört, man muss halt nur gegen ein altes Fotografengesetz verstoßen und den Horizont schön in der Bildmitte halten.
Es gibt aber auch andere störende Dinge, die man beim Fotografieren mit dieser Kamera (und vermutlich auch mit der teureren Noblex) berücksichtigen muss: Durch die rotierende Optik werden alle hellen Lichter zu horizontalen Lichtstreifen. Hier als Beispiel das Bild des Monats Dezember: Schaut auf die Lampen, vor allem auf die Strahler links:
Nach meinem Dafürhalten sind diese Streifen systembedingt und nicht ausschließlich ein Zeichen für eine schlechte Optik. Bei einigen anderen Bildern nämlich trat auch eine andere Nebenerscheinung auf. Hier haben die Flutlichter einen Schatten auf das Objektiv geworfen, als dieses während der Rotation aus dem direkten Lichtstrahl schwenkte. Das wirkte sich in einer abrupten Verdunkelung des Bildes aus:
Ob die elektronische Belichtungskorrektur, die als Zubehör für einige Noblex-Modelle erhältlich ist, hier Abhilfe schaffen kann, weiß ich nicht.
Ein weiteres "Problem" ist leicht zu lösen: Die Horizon erlaubt Belichtungseinstellung nur in ganzen Blendenschritten. Ich habe also beschlossen, ausschließlich Farbnegativfilme in die Horizon einzulegen und im Zweifelsfall eine halbe Blende überzubelichten. Der größere Belichtungsspielraum der Negativfilme sollte das Fehlen genauerer Einstellungsmöglichkeiten wett machen. Außerdem zeigen mir die ersten, durchwegs aus der Hand gemachten Bilder, dass sich ein Stativ immer empfiehlt. Da 95 Prozent meiner Hasselblad-Fotos auf Stativ entstehen und ich bei Fotoexkursionen immer ein Stativ mithabe, ist auch das kein großes Problem.
Die Horizon ist um den Preis wirklich eine billige Effektkamera, und ich denke, sie ist ihr Geld wert. Von der Bildqualität bin ich beeindruckt, und die Kamera ist sicher mehr als nur ein Panorama-Spielzeug, wenn man sie nicht für "kritische" Arbeiten missbraucht. Sie wird wohl für die nächste Zeit eine willkommene Ergänzung in meinem Rucksack, wenn ich mit der Hasselblad zum Landschaftsfotografieren aufbreche. Im März 2002 werde ich voraussichtlich wieder einmal den Südwesten der USA mit der Kamera bereisen, und ich könnte mir vorstellen, die Horizon mitzunehmen, um mit ihrer Hilfe den unbeschreiblchen Eindruck der Größe des Grand Canyons oder des Monument Valleys in einem einzigen "Schwung" zu erfassen.
Eine (erste) Bilanz war: Ich hatte da günstig den Einstieg in die Panoramafotografie geschafft. Ich hatte nicht nur ein nettes Spielzeug erworben, sondern auch ein Erziehungsgerät, das mich bald schon eines gelehrt hat: Irgendwann würde ich in ein XPansystem investieren (und habe es mittlerweile gemacht). Die Panoramafotografie macht mir großen Spaß, aber sie würde mir noch mehr Spaß machen, wenn ich nicht ständig auf den Lichtwinkel oder starke Lichtquellen in meinem Bildfeld achten müsste.
Litztes Update Jänner 2002, © Günter K. Haika